Geschäftsführung ohne Auftrag – Selbstaufopferung im Straßenverkehr
(BGH, Urt. v. 27.11.1962 – VI ZR 217/61)
- Posted by IUDICUM
- Zugang Klassiker Urteile, Zivilrecht
Relevanz
„Selbstaufopferung im Straßenverkehr“ stellt wohl einen etwas dramatischen Titel dar, die dogmatischen Ausführungen des BGH zu diesem Fall sollte jeder Jurastudent aber dennoch einmal gehört haben. Es geht im Kern um die Frage, ob eine Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) vorliegt, wenn ein Fahrzeugführer das Lenkrad zur Seite reißt, um die Kollision mit einem anderen Verkehrsteilnehmer zu verhindern.
Sachverhalt
Der Fahrzeugführer F sah sich im Frühling 1958 auf einer Landstraße gezwungen, sein Auto in einen Acker zu befördern. Der Grund: Das letzte Mitglied einer Fahrradfahrergruppe, die sich auf der Gegenspur befand, schwenkte plötzlich und unerwartet vor das Fahrzeug des F aus. Dieser prallte sodann gegen einen Baum, brach sich einen Arm und war aufgrund dessen längere Zeit arbeitsunfähig. Die daraus entstandenen Schäden wurden von der gesetzlichen Unfallversicherung U gedeckt, welche daraufhin den entsprechenden Fahrradfahrer auf Kostenersatz verklagte. Als Anspruchsgrundlage kamen die Vorschriften der unerlaubten Handlung und der GoA in Betracht.
Problem
Liegt in der Handlung des F ein objektiv fremdes Geschäft? Falls ja, muss die typische Gefahrenlage des Straßenverkehrs Beachtung finden?
Lösung
Im Klausurfall sollte mit der Prüfung der GoA als quasi-vertraglicher Anspruch begonnen werden (Merksatz der Prüfungsreihenfolge: Viel Quatsch schreibt der Bearbeiter). Wir führen aber zunächst die Frage nach der unerlaubten Handlung aus, da diese schneller und inhaltlich weniger spannend zu beantworten ist. Der BGH verwies nämlich nur auf Beweisproblematiken. § 823 I BGB verlangt ein Verschulden des Schädigers, welches die U dem Fahrradfahrer vor Gericht jedoch nicht nachweisen konnte. Daher war diese Anspruchsgrundlage relativ schnell verworfen. In einer Klausur ohne Beweisschwierigkeiten dürfte der Anspruch allerdings grundsätzlich bestehen.
Der Anspruch aus §§ 677, 683, 670 BGB (Ersatz von Aufwendungen aus echter berechtigter GoA) wurde vom vorinstanzlichen OLG bejaht. Dem folgte der BGH auch im Wesentlichen. Eine „Geschäftsführung“ läge vor, da F durch das Herumreißen des Lenkrads verhindert hat, dass der Fahrradfahrer überfahren wurde. Er habe damit eine Angelegenheit besorgt, die in dessen Interesse lag. Hierbei ist es wichtig zu wissen, dass der Begriff der Geschäftsbesorgung weit zu verstehen ist und auch Handlungen tatsächlicher Art umfasst.
Das Geschäft war auch objektiv fremder Natur, da F Belange des Fahrradfahrers wahrgenommen hat, indem er ihm vor einer Verletzung oder gar dem Tod bewahrte. Daran ändert auch § 1 StVO nichts – dieser könnte nämlich so verstanden werden, dass F verpflichtet war, dem Fahrradfahrer auszuweichen. Folglich hätte er ein eigenes Geschäft geführt. Allerdings betonte der BGH, dass sich F auch auf ein bloßes Bremsen hätte beschränken können, ohne sich sorgfaltswidrig zu verhalten. Dementsprechend ging er mit dem Herumreißen des Lenkrads über seine übliche Pflicht hinaus und besorgte ein objektiv fremdes Geschäft.
Etwas problematisch erwies sich jedoch die Frage nach dem Fremdgeschäftsführungswillen. Denn hiergegen könnte man einwenden, dass F nicht hauptsächlich deshalb gehandelt hat, um den Fahrradfahrer vor Verletzungen zu bewahren. Vielmehr könnte man seine Gesinnung darin sehen, strafrechtlicher Verfolgung „auszuweichen“.[1] Dem hielt der BGH jedoch entgegen, dass anzuzweifeln ist, ob ein Fahrzeugführer in der kurzen Zeit vor dem Unfall überhaupt solche Abwägungen treffen kann. In der Mehrzahl der Fälle sei vielmehr davon auszugehen, dass die Handlung des Fahrers davon bestimmt wird, die Gesundheit und das Leben der Verkehrsteilnehmer zu beschützen. Ein Fremdgeschäftsführungswille lag damit vor.
Nun sah sich der BGH aber noch gezwungen, das grundsätzliche Vorliegen der Aufwendungsersatzpflicht zu reduzieren. Denn durch die Nutzung des Fahrzeugs habe F selbst zur Gefahrenlage beigetragen und daher die Schäden hälftig zu tragen (Gefährdungshaftung aus § 7 StVG).
Entscheidung
BGH, Urt. v. 27.11.1962 – VI ZR 217/61 (NJW 1963, S. 390 ff.)
Weitere Artikel
https://jura-online.de/blog/2018/04/10/selbstaufopferung-im-strassenverkehr/
Andere Ansicht: https://www.iurastudent.de/leadingcase/die-selbstaufopferung-im-stra-enverkehr-angelehnt-bgh-vi-zr-21761
[1] vgl. hierzu OLG Koblenz, Urt. v. 08.07.1953 – 1 U 152/53, NJW 1953, S. 1632 (1633).
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