Einführung
Prüfungsreihenfolge:
Allgemeiner Anspruchsaufbau:
Zum Volltext:
Willkommen zur ersten Lektion und zeitgleich Einführung ins BGB AT bei IUDICUM. In dieser Lektion geht es darum, die allgemeinen Grundlagen des deutschen Privatrechts zu wiederholen und sich ein kompaktes Bild über das Zivilsystem zu verschaffen.
Beginnen wir zunächst mit dem Grundkonzept aller zivilrechtlicher Anspruchsprüfungen: Die Prüfungsreihenfolge. Diese folgt dem Merksatz „Viel Quatsch schreibt der Bearbeiter“. 1. Vertragliche Ansprüche, 2. Quasivertragliche Ansprüche, 3. Sachenrechtliche Ansprüche, 4. Deliktische Ansprüche und 5. Bereicherungsrechtliche Ansprüche. Das schematische Vorgehen in der Anordnung der verschiedenen Anspruchsgrundlagen hilft, eine eigene Sicherheit im klausurtaktischen Denken zu finden und vereinfacht häufig komplizierte Anspruchskonkurrenzen. P.s.: Ein Anspruch ist das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen (§ 194 I BGB).
Wichtig ist zu verstehen, warum manche Anspruchsgrundlagen vor anderen geprüft werden. Das kann aus Grundprinzipien des BGB AT, aber auch aus logischen Gründen folgen: Am speziellsten sind die mit individuellen Abreden und Vereinbarungen bestückten Verträge, die eine besondere Beziehung zwischen Beteiligten begründen und Ausfluss der Privatautonomie sind („Jeder darf mit jedem Verträge schließen, wie er will.“). Solche Beziehungen sind spezieller als die durch Gesetz angeordneten Rahmenbedingungen, weshalb sie zuerst geprüft werden. Quasivertragliche Ansprüche werden aus schuldverhältnisähnlichen Bindungen zwischen den Beteiligten abgeleitet (Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA), Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter (VSD), Drittschadensliquidation (DSL)). Sachenrechtliche Ansprüche werden vor deliktischen und bereicherungsrechtlichen Ansprüchen geprüft, weil das Eigentum als Vollrecht gegenüber jedermann Geltung findet, auch wenn keine schuldrechtliche Beziehung vorliegt. Deliktische Ansprüche werden dann geprüft, wenn jemand wegen einer unerlaubten Handlung durch Gesetz zwangsweise in ein Schuldverhältnis gerückt wird (Beziehung zwischen deliktischem Schädiger und Geschädigtem). Sollte kein Schuldverhältnis aus Vertrag oder Gesetz vorliegen, kann nur noch auf die ungerechtfertigt umverteilte Vermögensmasse abgestellt werden. Erleidet jemand einen Schaden durch rein tatsächliches und unberechtigtes Handeln eines anderen, muss zumindest eine Abschöpfung des Erlangten möglich sein. Darüber hinaus ist aber auch das Nichtbestehen einer schuldrechtlichen Beziehung oftmals Voraussetzung für bereicherungsrechtliche Ansprüche, weshalb die Reihenfolge nur konsequent erscheint.
Innerhalb der Ansprüche lässt sich weiterhin wunderbar schematisch vorgehen. Nachdem man sich die Frage gestellt hat, wer was von wem woraus will, ist in den meisten Fällen zunächst zu prüfen, ob der Anspruch überhaupt erst entstanden ist. Hier zeigt sich beispielsweise, ob ein Kaufvertrag wirksam zustande kam. Mögliche rechtsvernichtende Einwendungen finden dann erst bei Erlöschen des Anspruchs Relevanz. Beispiel: Ob der entstandene Vertrag aufgrund einer bereits erfolgten Erfüllung nach § 362 I BGB überhaupt einen Anspruch begründen kann, wird nicht schon bei „Anspruch entstanden“, sondern vielmehr bei „Anspruch erloschen“ geprüft. Jede vollständige Prüfung ist sodann mit einem „Anspruch durchsetzbar“, also den rechtshemmenden Einreden abzuschließen. Als prominenteste Beispiele dürfen an dieser Stelle die Verjährung und die noch nicht eingetretene Fälligkeit eines Anspruchs dienen.
Aber warum prüfen wir eigentlich so kleinkariert? Würde es nicht ausreichen, jeden Fall nach eigenem Ermessen auf seine Besonderheiten zu untersuchen? Grundsätzlich ja. Jedoch trägt der wichtige Grundsatz der Privatautonomie dazu bei, dass Verträge individuell gestaltet werden können. Das hat zur Folge, dass es ein gewisses Maß an Grundregeln geben muss, die bei jedem „Standardvertrag“ gelten. Und eben diese Grundregeln lassen sich am einfachsten durch ein umfassendes und dennoch abschließendes Schema überprüfen. Zu diesen Grundregeln zählt im Übrigen auch die Unterscheidung zwischen dem Verpflichtungs- und dem Verfügungsgeschäft, kurz: Das Trennungs- und Abstraktionsprinzip. Nach dem Trennungsprinzip sind schuldrechtliche Verträge (Verpflichtungsgeschäfte) und sachenrechtliche Übertragungen, Belastungen, Änderungen oder Aufhebungen (Verfügungsgeschäfte) streng voneinander zu trennen. Dies gilt über die gedankliche Trennung hinaus nach dem Abstraktionsprinzip auch für die Wirksamkeit: Nur weil der Eigentumsübergang beispielsweise aufgrund einer unerkannten Geisteskrankheit gem. §§ 104 Nr. 2, 105 I BGB nichtig ist, kann der vorherige Kaufvertrag dennoch wirksam sein.
Halten wir nun zum Schluss dieser Lektion fest: Pacta sunt servanda. Verträge sind einzuhalten. Verträge sind individuell gestaltbar. Verträge sind aber auch so einzuhalten und zu gestalten, wie Treu und Glauben es mit Rücksicht auf die Verkehrssitte nach § 242 BGB erfordern. Wir prüfen Verträge daher nach dem altbekannten Schema, halten uns jedoch in Fällen des Rechtsmissbrauchs und des widersprüchlichen Verhaltens einer Partei die Möglichkeit offen, ein unbilliges Ergebnis nach § 242 BGB zu korrigieren. |